Die Ätiologie der chronischen immunoentzündlichen Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, multiple Sklerose, Tumoren und Arteriosklerose ist nicht vollständig geklärt. Es ist allgemein anerkannt, dass mehrere Faktoren bei der Entwicklung solcher Krankheiten vernetzt sind, einschließlich genetischer Disposition und ökologischer Faktoren wie Ernährung und Umwelt. Da Ganzheitliche ZahnMedizin seit jeher unter einem Mangel an von der „Schule“ akzeptierten Erklärungsmodellen leidet, ist der Nachweis der Überexpression des entzündlichen Botenstoffs RANTES/CCL5 im Kiefer ein Fortschritt. Dies besonders, weil eine Literaturrecherche in Google Scholar die massive pathogenetische Verwicklung der lokalen RANTES/CCL5-Überexpression im Kieferknochen in fast allen chronischen Krankheitsbildern belegt.
Chronische Erkrankungen liegen unter der Oberfläche versteckt als Folge eines Immunsystems, das ständig von Zytokinüberschüssen aktiviert wird. Diese stimulieren auch unterschiedliche Signalwege, deren Expression wir erstmalig auch in fettig-degenerativen Osteolysen/Osteonekrosen im Kieferknochen (FDOK) nachweisen konnten [1]. Unsere eigenen Studien weisen auf eine unmittelbare Bedeutung von RANTES/CCL5 (R/C) bei Patienten mit FDOK-Entzündungsreaktionen im Medullarraum hin: In dem fettig-osteolytischen Operationsgewebe einer FDOK (▶ Abb. 1) waren in allen von uns untersuchten Fällen sehr hohe lokale R/C-Spiegel messbar mit bis zu 35-facher Überexpression von R/C. Dagegen waren die Markerzytokine einer akuten Entzündung wie TNF‑a oder IL-6 weniger stark exprimiert als im gesunden Vergleichsknochen. Die röntgenologische Darstellung dieser chronisch- entzündlichen Prozesse bereitet in der Praxis allerdings Probleme, was deren geringe Anerkennung in der „Schulzahnmedizin“ zur Folge hat [2, 3].
RANTES (= Regulated And Normal T cell Expressed and Secreted) ist ein Chemokin mit chemotaktischer Wirkung. Eine in der Literatur synonym verwendete Bezeichnung ist CCL-5. RANTES/CCL5 (R/C) wird von zytotoxischen T-Lymphozyten (CD28+/CD8+) sowie neutrophilen und eosinophilen Granulozyten produziert und nach Aktivierung sezerniert. Chemotaxis und Immunaktivierung sind die wichtigsten Funktionen von R/C: R/C ist chemotaktisch wirksam, d. h. es induziert die gezielte Anlockung von NK-Zellen, Granulozyten, Monozyten und Makrophagen in ein bestehendes Entzündungsgebiet. Es wirkt auf diese Zellen über die Bindung an Oberflächenrezeptoren wie CCR3, CCR5 und CCR1 (CCR = Chemokinrezeptor). R/C ist somit an vielen Krankheitsbildern beteiligt, bei denen entzündliche Prozesse auftreten. R/C bewirkt aber gemeinsam mit Interleukin-2 (IL-2) und Interferon- gamma (IFN-γ) auch die Aktivierung von NK-Zellen und regt diese zur Proliferation an.
Unsere Studien [4] weisen auf eine unmittelbare Bedeutung von R/C bei Patienten mit FDOK-Entzündungsreaktionen im Medullarraum hin, und zwar mit einem völlig eigenen Zytokinprofil: In den FDOK-Proben waren in allen untersuchten Fällen sehr hohe lokale R/C-Spiegel messbar – mit bis zu 35-facher Überexpression von R/C. Dagegen waren die Markerzytokine einer akuten Entzündung wie TNF-α oder IL-6 weniger stark exprimiert als im gesunden Vergleichskieferknochen (▶ Abb. 1).
Überexprimierte R/C-Zellsignale können in vielen Organsystemen eine Kaskade dysregulierter Physiologie induzieren, wodurch sich Multisystembeschwerden mit unterschiedlichsten Formen entwickeln [5]. Ein Ungleichgewicht zwischen den Zytokinen und deren jeweiligen Inhibitoren ist ein Merkmal bei chronischen entzündlichen Zuständen. Zytokine sind eingebunden in das Auslösen der Immunantwort, in die Induktion von akut entzündlichen Ereignissen und in den Übergang oder in die Persistenz der chronischen Entzündung. Dies bedeutet, dass zur Wahrung gesunder Bedingungen die zytokinproduzierenden Mechanismen kontrolliert werden müssen [6], denn zahlreiche Krankheiten sind mit der Freisetzung eines Sturms bioaktiver Verbindungen verbunden, auch repräsentiert durch proinflammatorische Zytokine wie R/C [7]. Erhöhte R/C-Spiegel im Blut treten bei zahlreichen systemischen Entzündungserkrankungen auf. Dazu zählen Rheuma, Allergien, Asthma, Multiple Sklerose und auch einige Tumorerkrankungen. Als Labormarker zum Nachweis einer chronischen systemischen Entzündung hat R/C bisher keine wesentliche Bedeutung erlangt, da es mit TNF-α, IP-10 und IL-6 sensitivere Marker gibt.
Vor diesem Hintergrund war es von Interesse, in wissenschaftlichen Suchmaschinen Publikationen und Literatur zu R/C und damit verbundenen Krankheiten zu sichten. Wir beschränken uns mit der Recherche auf GoogleScholar (GS). GS ist eine allgemeinwissenschaftliche Suchmaschine, die das Internet nach wissenschaftlichen Literaturhinweisen durchsucht. Vorteile der Suchmaschine sind die sehr große Datenbasis und ein Algorithmus, der zu einer brauchbaren Trefferliste führt. Die Nachteile von GS liegen in der mangelhaften Filterfunktion und der fehlenden intellektuellen Qualitätsprüfung der Trefferliste. Demnach sind die hier für Suchoptionen präsentierten Zahlen nicht sehr belastungsfähig und mit hoher Wahrscheinlichkeit mit zahlreichen Mehrfachbenennungen durchsetzt. Die medizinischen Begrifflichkeiten und Pathologien und Krankheiten wurden in GS mit dem Zusatz „…AND RANTES CCL5“ eingegeben. „AND“ wurde als Booleʼscher Operator benutzt, um die neuere Bezeichnung des Chemokins CCL5 (C‑C motif chemokine ligand 5) und auch die ältere Bezeichnung R/C in der Suchmaschine zu erfassen. Die Eingaben erfolgten immer in englischsprachiger Terminologie, um die wissenschaftlich indexierten publizierten Arbeiten zu erreichen. ▶ Abb. 2 zeigt die Treffer in GS bei Eingabe der Suchbegriffe „Multiple Sklerosis, diabetes, rheumatic arthritis und breast cancer“. Wir haben Stichwörter für diese 4 Krankheiten und deren Verbindung zu R/C nach oben genannter Methode in GS eingegeben. Die Bandbreite der Treffer beläuft sich bei „Multiple Sklerosis AND RANTES CCL5“ auf 5140, bei „Diabetes AND RANTES CCL5“ auf 2900, bei „Rheumatic Arthritis AND RANTES CCL5“ auf 7310, „Breast Cancer AND RANTES CCL5“ auf 5150. Dies zeigt den Umfang an wissenschaftlich gesicherten Einwirkungen von R/C auf die ausgewählten Krankheitsbilder mittels der in GS angegebenen Literaturquellen – in kleiner Auswahl. Die Abstracts sind aus Platzgründen stark gekürzt und auf R/C-Wirkung gefiltert. Zur eigenen Literaturrecherche ist die Referenz direkt in den medizinischen Bibliotheken nachzulesen. Zum Vergleich wurden auch für „Jawbone AND RANTES CCL5“ die Treffer in GS gesucht. ▶ Abb. 2 zeigt die numerische Verteilung der Treffer.
Die Rolle von Chemokinen in der Pathogenese von MS ist noch nicht hinreichend untersucht. RANTES‑CSF-Werte (CSF: Cerebrospinalflüssigkeit) waren bei MS-Patienten im Vergleich mit Kontrollpatienten erhöht. Es wurde bewiesen, dass ZNS-Expression (ZNS: Zentralnervensystem) von R/C in Gehirnen von MS-Patienten am Rand aktiver Plaque dominiert. R/C könnte ein proinflammatorischer Schlüsselfaktor für die MS-Pathogenese sein. Die Entdeckung der Ursachen und der zeitlichen und räumlichen Muster der Chemokinexpression während der autoimmunen Demyelinisierungserkrankung des ZNS eröffnet neue potenzielle Ziele der therapeutischen Intervention [8]. Mehrere Studien haben die Rolle für Chemokine während der Autoimmun-Enzephalomyelitis (MS) aufgezeigt; Daten deuten darauf hin, dass die Induktion der Adhäsion von Leukozyten an die Mikrogefäße im Gehirn ein wichtiger Mechanismus ist, durch den R/C an der Pathophysiologie der MS mitwirkt [9].
Systemische Konzentrationen von R/C waren bei Personen mit IGT- oder Typ-2-Diabetes höher als bei Kontrollprobanden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass R/C an der Entwicklung von Typ-2-Diabetes unabhängig von Metabolisches- Syndrom-bezogenen Risikofaktoren beteiligt sein kann. Es gibt keine allgemeine Hochregulierung der Chemokinproduktion bei Typ-2-Diabetes, sondern eine Assoziation der Erkrankung mit spezifischen Mitgliedern der Chemokinfamilie [10]. Es ist bekannt, dass CCL5/ RANTES und sein zugehöriger Rezeptor CCR5 zur neuronalen Funktion sowie zu metabolischen Störungen wie Typ-2-Diabetes mellitus, Adipositas, Atherosklerose und metabolischen Veränderungen nach HIV-Infektion beitragen. Das Blockieren von CCR5 löschte die Insulin-Signalaktivierung. Zusammengenommen zeigen unsere Daten, dass CCR5 die Insulinsignalisierung im Hypothalamus reguliert, was zur systemischen Insulinsensitivität und zum Glukosestoffwechsel beiträgt [11].
Die Serum-RANTES-Spiegel waren bei allen Onsettypen von juveniler rheumatoider Arthritis (JRA) signifikant erhöht. Die Serum-RANTES-Konzentrationen korrelierten mit C-reaktiven Proteinkonzentrationen, Hämoglobinwerten, Zählungen der weißen Blutkörperchen (WBC) und Thrombozytenzahlen. Die Werte von R/C in Synovialflüssigkeit waren im Vergleich zu den Serumspiegeln erhöht. Schlussfolgerung: R/C ist ein Schlüsselmolekül in der Pathogenese aller Gruppen von JRA. Serumspiegel dieser CC-Chemokine repräsentieren höher empfindliche Marker der Krankheitsaktivität als herkömmliche Marker der Entzündung [12]. Die selektiven Chemoattractantund Aktivierungseffekte von Chemokinen auf Leukozyten identifizieren sie als potenziell ideale Kandidaten bei der Vermittlung selektiver entzündlicher Prozesse in der RA. Die Ergebnisse zeigen erhöhte Werte der R/C-Genexpression in zirkulierenden RA-Zellen. Die histologische Untersuchung betroffener rheumatoider Gelenke ergab umfangreiche R/C-Expression. Diese Daten deuten darauf hin, dass R/C eine zentrale Rolle an der Immunregulation und den entzündlichen Prozessen der RA spielt [13].
Viele Studien behandeln die Beteiligung und die Rolle von R/C in der Brustmalignität: Während sie von normalen Brustepithelkanalzellen minimal exprimiert werden, werden Chemokine stark von Brusttumorzellen an primären Tumorstellen exprimiert, was anzeigt, dass R/C-Expression im Laufe der malignen Transformation erworben wird. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Chemokine eine Rolle in der Brustkrebsentwicklung und/oder -progression spielen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass R/C ein entzündlicher Mediator mit Promalignität ist [14]. Denn Chemokine in Tumoren sind mehr als nur Leukozyten- Lockstoffe. Im Brustkarzinom korreliert die R/C-Expression durch Tumorzellen mit einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, was nahelegt, dass R/C an der Brustkrebsprogression beteiligt sein kann [15].
Nachdem die Recherche zeigt, dass mindestens 4 Organe ihre Krankheiten mit R/C-Überexpression verbundenen entzündlichen Zuständen zu verdanken haben, ist es umso erstaunlicher, dass der Kieferknochen – mit „Jawbone AND RANTES CCL5“ als 5. Organ auf R/C-bedingte Entzündungszustände untersucht – in GS nur 32 Treffer zeigt. Von den 32 Treffern unter „Jawbone AND RANTES CCL5“ beziehen sich 14 auf Publikationen des Autors und seiner Koautoren selbst. Insgesamt belaufen sich die 32 „Jawbone RANTES-Zitate“ auf nur 0,17% aller krankheitsrelevanten R/C-Zitate für die 4 aufgeführten Krankheitsbilder. Allerdings bezieht sich kein Abstract auf einen direkten kausalen Zusammenhang von R/C aus FDOK zu einemder zitierten Krankheitsbilder, obwohl aus der Fülle der R/C-induzierten inflammatorischen Prozesse in Organen und regulatorischen Subsystemen die potenzielle Wirkung von R/C aus FDOK deutlich wird.
Was ist aus der Literaturrecherche in GS zu schließen? Offensichtlich beschäftigt sich die gesamte medizinische Forschung mit R/C-Überexpression und nur die Zahnmedizin geht bislang an dieser potenziellen Krankheitsquelle vorbei. Einerseits wird R/C in über 18500 GS-Treffern als mögliches Schlüsselelement einer pathogenetischen Signalkaskade angesprochen. Andererseits ist die extrem niedrige Zahl an R/C-Forschungen an den von uns untersuchten FDOK-Arealen besonders auffällig: Mit nur 32 Treffern in GS offenbart sich das mangelnde wissenschaftliche oder auch klinische Interesse an FDOK, einer daraus resultierenden „silent inflammation“ mit nachfolgender immunologischer Metainflammation. Es offenbart sich dadurch ein bemerkenswertes Defizit: Bis heute sind diese FDOK-Osteopathien nur in geringem Umfang Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen als solche. Auch ihre Beteiligung an systemischer Metainflammation über immunologische R/C-Signalwege findet wenig Interesse, obwohl natürlich die Vielzahl der GS-Treffer noch keinen Beleg für Kausalität im klinischen Einzelfall darstellt. Künftig sollte verstärktes Gewicht auf die von uns erstmalig durchgeführte labortechnische Aufdeckung des Entzündungsbotenstoffs R/C im Kieferknochen gelegt werden. R/C-Analyse von FDOK-Proben kann zum Nachweis einer ganzheitlich-systemischen Signalwirkung aus dem Kieferbereich mit modernen immunologischen Methoden dienen. Die in der vorgelegten Literaturrecherche dokumentierten Ungleichgewichte belegen einen weiteren Forschungsbedarf in den R/C-basierten Beziehungen von „silent inflammation“ im Kieferbereich und Systemerkrankungen. Über verstärkte Interdisziplinarität und Kommunikation der spezifischen Fachbereiche untereinander könnte die Qualität in der Behandlung chronischer Erkrankungen verbessert werden.